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Musikalische Mystik?

Hans Zenders Kantate nach Meister Eckhart


Hans Zender ist Musiker in einem umfassenden Sinne: dirigierend und komponierend, lehrend und reflektierend (Hans Zender: Die Sinne denken. Texte zur Musik 1975–2003. Hg. von Jörn Peter Hiekel. Verlag Breitkopf & Härtel, Wiesbaden u. a. 2004. Dort auch ein kurzer Text des Komponisten zur Eckhart-Kantate, S. 320.). Zu seinen integrativen Bestrebungen zählt die Verbindung von Komponieren und Interpretieren in der „komponierten Interpretation“ von Schuberts Winterreise, neuerdings auch Beethovens Diabelli-Variationen. Hinzu kommt sein produktiver Umgang mit Traditionen. „Wir leben de facto in vielen geistigen Welten“ sagte er in einem Interview. Neuere Gedanken Zenders kreisen etwa um Fragen des Tonsystems und seiner Temperierung, wobei er vollends mit den „Logos-Fragmenten“ eine individuelle neue Lösung, und zwar im Rückgriff auf alte chinesische Ordnungen, gefunden hat. Ein weiterer Akzent aus jüngerer Zeit ist die Frage nach „spiritueller Musik“, die Sammlung, Konzentration und Introversion ermöglicht: „Musik kann konzentrative Prozesse im Menschen beflügeln.“
Überraschend viele der hier nur grob skizzierten Aspekte finden sich bereits in Hans Zenders „Kantate nach Worten von Meister Eckhart“ (Notenausgabe als Spielpartitur bei Boosey & Hawkes; CD-Einspielung mit Hanna Aurbacher (Alt), Roswitha Staege (Altflöte), Ulrich Heinen (Violoncello) und Martin Galling (Cembalo) beim Label cpo.), die 1980 in nur vier Tagen entstanden ist. Das etwa 15 Minuten dauernde viersätzige Werk ist Olivier Messiaen „in großer Verehrung gewidmet“. Mit Altsolo, Altflöte, Violoncello und elektronisch verstärktem Cembalo reflektiert das Werk eine für die Gattung Kantate durchaus vertraute Besetzung. Vielleicht darf sogar an die Symbolik der Stimmlagen erinnert werden, in deren Kontext der Altstimme nicht selten innig-mystische Sätze übertragen werden, nicht zuletzt in Bachs Kantatenwerk. – Meine Überlegungen stützten sich auf eine Aufführung der Eckhart-Kantate mit Einführung des Komponisten und anschließendem Gespräch in der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg beim „Aschermittwoch der Künstler“ am 25. Februar 2009.
Eine für Zender überaus wichtige Entwicklung bahnt sich bereits in dieser Kantate an. Er verabschiedet sich von der gleichstufigen Temperierung und greift auf ein altes chinesisches Tonsystem mit reinen, also nicht temperierten Intervallen zurück. Dieses Tonsystem wird im oberen Manual des Cembalos eingestimmt. Im unteren erklingt die gleichstufige Temperierung. Durch den Gebrauch beider Manuale ergeben sich zahlreiche intervallische Differenzierungsmöglichkeiten, vor allem im Sinne kleiner Intervalle als Differenz des europäischen und des östlichen Tonsystems. Hans Zender vermeidet damit eine Entscheidung im Sinne von Entweder-Oder. Vielmehr sucht er die kreativen Möglichkeiten: Jedes Tonsystem kann für sich Verwendung finden, und zusätzlich können die aus der Überlagerung sich ergebenden Differenzen genutzt werden. Das Ergebnis hat „gleichzeitig den Charakter einer verblüffenden Archaik wie auch einer sehr irritierenden Modernität“ (Hans Zender (Anm. 1), S. 320.).
An Meister Eckhart (1260–1328), dem mittelalterlichen Theologen, Philosophen und Sprachschöpfer, beeindruckt Zender die Radikalität seiner Formulierungen. Die Aktualität Eckharts (Aus der Überfülle der Literatur vgl. etwa Werner Beierwaltes: „UND DAS EN MACHET UNS SAELIC“. Meister Eckharts Begriff des Einheit und der Einung. In: Ders.: Platonismus im Christentum. Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 1998, S. 100–129.) mitsamt seiner Verbindung von metaphysischem Denken – etwa in der Rezeption von Plato und Aristoteles – mit einer höchst bewussten und biblisch genährten Religiosität wurde in den letzten Jahrzehnten immer mehr erkannt. Die Textgrundlage der Kantate stammt aus der im Advent 1325, also vor bald 700 Jahren, gehaltenen Predigt 22 „Ave, gratia plena“ (Vgl. Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate. Hg. und übers. Von Josef Quint. Diogenes Verlag, Zürich 1979; Ders.: Werke in zwei Bänden Text und Übersetzung von Josef Quint. Hg. und kommentiert von Niklaus Largier. Zweisprachige Ausgabe in zwei Bänden. Hg. und übers. Von Niklaus Largier. Deutscher Klassiker-Verlag, Frankfurt a. M. 1993.), von der Hans Zender sagt, dass sie ihn „elektrisiert“ habe. Diese Predigt führt direkt ins Zentrum mystischen Denkens, indem sie die Gottesgeburt in der Seele zur Sprache bringt: „Gott gebiert seinen eingeborenen Sohn in dir, es sei dir lieb oder leid, ob du schläfst oder wachst – er tut das Seine.“
Was fasziniert Zender an der Mystik, deren Wiederentdeckung – in ihren östlichen wie westlichen Spielarten - um 1980 bereits in vollem Gang war? Er spricht vom individuellen Weg, der gefunden werden muss, jedoch ohne seine Individualität nach außen darzustellen. Ohnehin nicht mehr gangbar scheint ihm die Flucht in das „Wir“ im Sinne des Kollektivs oder in der Konstruktion neuer allgemein verbindlicher Ordnungssysteme – dafür ließen sich musikalisch die Normen der Tonalität und theologisch das Gefüge der Dogmatik anführen. Hat das Christentum seine kultur-schöpferische Kraft in der Moderne ebenso verloren wie seine frühere Faszination bei den Künstlern? Zender sieht die Mystik als neue alte Kraftquelle mit Antwortimpulsen auf Fragen der Gegenwart. Dieser Gedanke konvergiert mit seinem generellen Standpunkt zu Traditionen. Wie vermeidet man blinden Traditionalismus ebenso wie blinden Traditionsbruch? Offenbar nur in einem kritisch reflektierten Verhältnis zur Tradition.
Ausgangspunkt der künstlerischen wie der religiösen Avantgarde ist die „Selbstvertiefung des Einzelnen“. Stichworte hierfür heißen Sammlung, Konzentration und Aufmerksamkeit. Sie konvergieren gleichsam mit dem, was Zender seinen Hörern zumutet: Sie sollen Hören lernen, ja das Hören üben – um neue Erfahrungen zu machen, die innen und außen zusammen bringen. Solche ereignishafte Erfahrung von Einheit ist Ziel aller Mystik. Philosophische Konzepte versuchen ein „Denken des Einen“ und zielen dabei in die gleiche Richtung des Loslassens alles Gegenständlichen in äußersten Erfahrungen von Einheit, musikalischer gesagt: Stimmigkeit. Wie aber könnte ein „Komponieren des Einen“ klingen? (Als weitere kompositorische Eckhart-Rezeption vgl. Wolfgang Rihms oratorisches Werk „maximum est unum“ für Altsolo, zwei Chöre, Orgel und Orchester (UA 1996), auf das Werner Beierwaltes in seinem Aufsatz (Anm. 2, S. 129) Bezug nimmt.) Einige Hinweise gibt Hans Zender hierzu in Überlegungen zur geistlichen Musik. Sie kreisen um das Verhältnis von Klang und Stille. Und sie plädieren für Reduktion als Schaffung eines Freiraums, in dem etwas geschehen kann: „Um ‚Ereignis‘ erfahrbar zu machen, scheint es zunächst einmal das Wichtigste, dem gestressten, lärmgeplagten und einseitig rational ausgerichteten heutigen Menschen das Erlebnis einer konzentrierten Stille anzubieten.“ Wer dies auch als Ziel einer Predigt...


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