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Claudio Monteverdi: Marienvesper 1610
»Andacht, Drama und Affekt«
Zur Marienvesper von Claudio Monteverdi




Die ersten Töne stehen nicht in den Noten! „Deus in adjutorium meum intende“ – O Gott, komm mir zu Hilfe – ruft ein Tenor mit Worten aus dem 69. Psalm. Jeder kirchliche Sänger zu Monteverdis Zeit kannte und konnte diese kurze „Intonatio“. Schließlich beginnen alle damaligen wie heutigen lateinischen Vespergottesdienste so. Dann aber folgt Musik aus der Feder des Komponisten. Mit der Bitte „Domine ad adjuvandum me festina“ – Herr, eile mir zu helfen – intensiviert er den solistischen Eingangsvers chorisch. Die blockhafte Deklamation auf einem einzigen Akkord setzt sich fort beim trinitarischen Gotteslob „Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto …“, der sogenannten Doxologie. Schließlich unterstreicht ein tänzerisches „Alleluja“ die fulminante Eröffnung. Und da befreien sich die vokalen Stimmen aus dem strengen akkordischen „Korsett“ gerade dadurch, dass sie sich den Instrumenten anschließen.
Die liturgisch-einstimmige Intonation initiiert aber nicht nur den Gesang, sondern zugleich ein wahres instrumentales Feuerwerk! Der imaginäre Vorhang hebt sich um 1610 zu Ehren Marias, so wie er sich am Mantuaner Hof der Fürstenfamilie Gonzaga schon im Karneval 1607 mit derselben dreifachen Fanfare – eine Art höfische Erkennungsmelodie und zugleich Monteverdis „musikalische Visitenkarte“ (Silke Leopold) – gehoben hat, damals für den mythischen Sänger Orpheus. Ihm, seiner Liebe zu Euridice und der Macht der Musik hat Monteverdi die erste Oper gewidmet, die noch heute lebendig ist. Die Marienvesper ist ihr geistliches Schwesterstück, nämlich die bis heute bekannteste Kirchenmusik aus jener Zeit. Monteverdi hat sie mit anderen Werken im Jahr 1610 drucken lassen, wohl um „seine Fähigkeit zu demonstrieren, Kirchenmusik aller Art zu komponieren“ (Uwe Wolf).
Wenn ein Werk so fulminant beginnt wie diese Marienvesper, dürfen die Hörer sich auf Überraschungen in Fülle gefasst machen: auf ekstatische Ausbrüche ebenso wie auf Momente verinnerlichter Betrachtung. Monteverdi verbindet die musikalisch-leidenschaftliche Dramatik mit einer psychologischen Charakterisierung menschlicher Affekte und Abgründe. Er lebte und wirkte in einer Zeit des musikalischen Umbruchs, den er aktiv mitgestaltet hat, komponierend und in Streitschriften argumentierend.
Die Schlüsselbegriffe seines musikalischen Denkens heißen „prima pratica“ und „seconda pratica“. Die „erste Art“ des Komponierens ist nichts anderes als die Tradition der Vokalpolyphonie mit ihren letzlich gleichberechtigten Simmen, die allesamt an der polyphonen Architektur mitwirken. Dieser „Praxis“ setzt Monteverdi ein Denkmal in der sechsstimmigen „Missa in illo tempore“, die im Druck von 1610 der Marienvesper vorausgeht. „Seconda pratica“ hingegen meint die damals neueste Art des Komponierens, bei der Solostimmen überaus affektvoll auf der Grundlage des Generalbasses agieren. Hier orientiert sich das musikalische Denken nicht mehr horizontal am Verlauf jeder melodischen Linie im Rahmen der Polyphonie, sondern stärker vertikal-akkordisch, so dass alle Stimmen sich in einen harmonischen Plan einfügen. Diese Art des Komponierens „übersetzt“ zugleich den Textgehalt mit seinen Bildern, Gesten und Affekten auf neue Weise in Musik. Die „Rede“ wird bei Monteverdi von einer Dienerin zur „Herrin des Tonsatzes“.
Blicken wir in die Entstehungszeit. Im Jahr 1610 war Claudio Monteverdis (1567–1643) Unzufriedenheit mit seiner Position am Hof zu Mantua...


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