Leseprobe aus: zurück zur Übersicht

Schauspiel und Spiegel

Zur Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach


Bereits in ihrer monumentalen Ausdehnung mitsamt doppelchöriger Anlage ist die wohl 1727 in der Leipziger Thomaskirche erstmals aufgeführte Matthäuspassion das kirchenmusikalische Hauptwerk von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Bestätigt wird diese besondere Stellung des Werkes überdies durch eine vom Komponisten 1736 anlässlich einer weiteren Aufführung angelegte prächtige Reinschriftpartitur und letztlich auch durch die spätere Rezeption. War es doch diese Passionsmusik, deren Wiederentdeckung und erstmalige Aufführung nach Bachs Tod im Jahr 1829 unter der Leitung des jungen Felix Mendelssohn Bartholdy die Bach-Renaissance des 19. und 20. Jahrhunderts in Gang setzte.

Perspektiven der Interpretation gibt es viele. Gerade darin erweist sich ja die Größe des Werkes, dass es sich für immer neue Deutungen – in der Aufführung wie in der „theoretischen“ Auslegung – öffnet. Hier ein paar Gedanken zur Matthäuspassion als Werk vielfältiger Integrationen. Bereits ihr ursprünglicher „Sitz im Leben“ vereinigt den traditionell-liturgischen Ort der nachmittaglichen Karfreitagsvesper mit dem damals bereits im Entstehen begriffenen Kirchenkonzert: noch konzertante Liturgie (mit einer Predigt zwischen den beiden Passionsteilen) und zugleich schon eine Art von geistlichem Konzert als besonderer und zukunftsweisender Ort der Verkündigung.

Die Textgestalt, deren Einrichtung von Bachs Leipziger Hauptdichter Picander stammt, vermittelt auf der Basis der biblisch bezeugten Passionsereignisse zwischen traditionell-theologischen Momenten (vor allem in den Chorälen) und affektvoll-moderner Passionsschilderung („Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden“). Sah die theologische Tradition in Christus vornehmlich den Gottessohn, der vom Vater stellvertretend für die ganze Menschheit ins Leiden geschickt, ja „für uns“ (pro nobis) bestraft wird, was sich wiederum nur in einem geistlichen Sinne erahnend verstehen lässt, so verschiebt sich der Akzent der Passionsauffassung im frühen 18. Jh. in Richtung der Menschlichkeit Jesus und seines vorbildhaften Leidens. Eine poetische Brücke zwischen beiden Auffassungen schlägt das Wort „Aus Liebe will mein Heiland sterben“, das Bach in eine entrückte Sopran-Meditation „übersetzt“, wobei ihm die biblisch inspirierten Worte zur musikalischen Inspiration werden.

In Wort und Ton ist die Matthäuspassion zwei Zeiten verpflichtet: der Zeit des biblischen Damals und der Gegenwart der Hörer hier und heute. Deshalb erfährt die damalige Frage der Jünger „Herr, bin ich’s?“ nicht etwa eine nur historische Antwort im Blick auf den Verräter Judas, sondern – nach dem Perspektivenwechsel einer Generalpause, von der bereits der Philosoph Ernst Bloch fasziniert war – eine gegenwärtige Antwort mit der die Hörer zur Identifikation herausfordernden Choralstrophe „Ich bin’s, ich sollte büßen“ von Paul Gerhardt.

Erzählung und Deutung der Passion münden immer wieder in die persönliche Aneignung. Und so bleibt die Leidensgeschichte in Bachs Musik kein Schauspiel, sondern wie wird zu einem Spiegel …


Bei Interesse am vollständigen Text senden Sie mir bitte eine .

zurück zur Übersicht