Die Kunst der Messe
Einführung in Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe
Ein einziges Mal nur hat Johann Sebastian Bach (1685-1750) den Wortlaut des Messordinariums von „Kyrie eleison“ bis „Dona nobis pacem“ vollständig vertont. Dies geschah jedoch nicht innerhalb weniger Wochen wie bei seinen Passionsmusiken oder dem Weihnachtsoratorium, sondern im Lauf von Jahrzehnten. Die h-Moll-Messe ist entstehungsgeschichtlich kein Werk aus einem Guss, sondern eine „musikalische Anthologie“, in welcher der Komponist besonders gelungene vokal-instrumentalen Sätze zusammenfasst. Nicht nur mittels Umtextierung - aus deutschen Kantatensätzen werden lateinische Messteile - verändert Bach diese Musik. Er überarbeitet zahlreiche Details, und vor allem stellt er die bereits vorhandene Musik in einen ganz neuen Werkzusammenhang: den der musikgeschichtlich so bedeutsamen Gattung der Messe.
Bis heute stellt uns gerade dieses Werk des Leipziger Thomaskantors vor kaum lösbare Fragen. Wie kam er überhaupt auf die Idee zu einer solchen Messkomposition? Im Rahmen seiner Dienstaufgaben war eine vollständige Messe nicht gefragt, und ein anderer äußerer Anlass oder Auftrag zur Komposition ist nie bekannt geworden. Über die innere Motivation Bachs schweigen jedoch die Quellen. Vielleicht ist dem Bachforscher Martin Geck Recht zu geben, der annimmt, dass Bach in seiner letzten Lebensphase von einer Idee umgetrieben war: er wollte einfach nicht sterben, ohne auch in der Gattung der Messe sein mustergültiges „Exemplum“ statuiert zu haben.
Das ist Bach zweifellos gelungen. Seine Missa h-Moll steht in der Publikumsgunst neben Beethovens Missa solemnis, Mozarts c-Moll-Messe und Schuberts As-Dur-Messe – ja, Bach eröffnet sogar den in neuerer Zeit bis zu Leonard Bernsteins „Mass“ und Dieter Schnebels „Dahlemer Messe“ reichenden Typus der konzertanten Messe, der liturgische Inspiration und persönliches Bekenntnis miteinander verbindet, weil der Komponist die Messe nicht nur komponiert, sondern sich mit ihr individuell auseinandersetzt.
Und doch fehlt Bachs großer Messe etwas. Bach ist in seinen letzten Lebensjahren und -monaten, die von fortschreitender Erblindung und gesundheitlicher Beeinträchtigung gezeichnet waren, mit der Komposition zwar – unter großen Mühen, wie die Handschrift der Partitur ausweist - zu Ende gekommen. Allein eine Überschrift konnte oder wollte er nicht mehr über sein Opus summum et ultimum, sein letztes vollendetes Werk, setzen.
Mit der Missa h-Moll zieht Johann Sebastian Bach als protestantischer Kantor und Musikdirektor Leipzigs gegen Ende seines Lebens (1748/49) die abschließende Summe seines vokal-instrumentalen Komponierens. Dazu erweitert er die bereits 1733 entstandene Kyrie-Gloria-Messe h-Moll nicht nur mittels Neukompositionen, sondern zugleich und vor allem durch Rückgriffe auf bereits vorhandene Werke wie ein lateinisches Sanctus von 1724 und deutsche Kantatensätze, deren Entstehung sogar bis in Bachs Weimarer Zeit zurückreicht. Die 1714 bereits entstandene Chor-Passacaglia „Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen“ wird zum „Crucifixus“ im Zentrum des Credo, dem Bach die alte Überschrift „Symbolum Nicenum“ (Glaubensbekenntnis von Nicäa) gibt. Damit erklingt die älteste Musik der Messe (1714 komponiert), nun allerdings in modernisierender Umarbeitung, direkt neben der jüngsten, dem nachträglich als eigenständigen Satz hinzugefügten „Et incarnatus est“, das wohl als letzte Vokalkomposition Bachs (1749) überhaupt gelten darf. Und dies zeigt – bei aller Verschiedenheit der musikalischen Formenwelt, der Besetzung und Instrumentation im musikalischen Kosmos der h-Moll-Messe – auf die beeindruckende innere Einheit des Bachschen Komponierens.
Außer Zweifel steht heute, dass Bach die Einzelsätze …
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