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"Man nehme einmal jede einzelne Stimme
und sehe sie für sich besonders an.
Man wird finden: das sind lauter Melodien,
die oft ebenso schön sind,
wie die Choralmelodie selbst."
Arnold Schönberg
Als Johann Sebastian Bach sich in der kirchenmusikalisch ruhigen Fastenzeit des Jahres 1724 der Komposition seiner Johannespassion widmete, stellten die Choräle wohl nicht das dringlichste Problem dar. Bachs erstes Leipziger Großprojekt stand vor ganz anderen Schwierigkeiten. Zunächst fehlte ein geeigneter Textdichter, was zur Folge hatte, dass die betrachtenden Stücke der Johannespassion aus verschiedenen Quellen – nämlich aus Werken von Barthold Heinrich Brockes, Christian Heinrch Postel und Christian Weise – stammen; wer die Zusammenstellung, Bearbeitung und Neudichtung einiger Sätze vorgenommen hat, wird wohl für immer unbekannt bleiben. Ein zweites Problem betraf den Aufführungsort. Hier wurden Missverständnisse aktenkundig. Der Komponist wollte die Passionsmusik in der Thomaskirche aufführen, und er hatte diesen Ort auch bereits auf die zum Verkauf angebotenen Textbücher drucken lassen. Der Rat der Stadt hingegen bestand auf den einmal vereinbarten Wechsel der Karfreitagsvesper zwischen den beiden Hauptkirchen. Bach musste sich schließlich dem vorgesehenen Turnus beugen und die Johannespassion 1724 in der Nikolaikirche musizieren. Dafür wurden dann auf städtische Kosten eigens Handzettel gedruckt. Außerdem wurde eilig das Cembalo der Nicolaikirche repariert, was im übrigen mit großer Sicherheit auf die Mitwirkung dieses Instruments bei Bachschen Passionen hindeutet.
Nicht übersehen dürfen wir zudem, dass die "musizierte Passion" im Jahr 1724 im eher konservativen Leipzig fast noch ein Novum darstellte. Erst 1717 hatte die oratorische Passion Einzug in der Leipziger Neukirche gehalten, und erst 1721 hatte Bachs Amtsvorgänger Kuhnau mit solch moderner, bisweilen als "opernhaft" verdächtigter geistlicher Musik in den Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai begonnen.
Offenbar waren es zwei - damals nicht selbstverständliche - Vorgaben, denen Bach zu folgen hatte. Erstens musste der wörtliche Bibeltext das "textliche Rückgrat" bilden und nicht eine gereimte Paraphrase wie bei den "Passionsoratorien" aus der Feder von Bachs Zeitgenossen - Bach und sein namentlich nicht bekannter Textdichter reagierten auf diese Vorgabe sehr sensibel, ja mit einer Art "Übererfüllung" des Vorgeschriebenen, denn sie akzentuieren nicht nur Biblisches, sondern sie nehmen in Wort und Ton zahlreiche typisch johanneische Aspekte auf. Zweitens waren zahlreiche Choräle erwünscht, und damit sind wir wieder beim Ausgangsthema. Insgesamt 14 Liedstrophen finden sich in der Johannespassion; an zwei Stellen unterlegt Bach dem vierstimmigen Satz gleich zwei Strophen; zwei Melodien verwendet er doppelt und eine sogar drei Mal. Die generelle Funktion der Liedstrophen ist die Betrachtung, und zwar mittels in Wort und Ton bekannter Musik - sozusagen in der "musikalischen Muttersprache" der Hörer. Innerhalb dieser generellen Funktion gibt es zudem …