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Musikalische Betrachtung der Natur

Zu Joseph Haydns »Jahreszeiten«

»Temperament, Sinn, Geist, Humor, Fluss,
Süße, Kraft und endlich die echten Zeichen des Genies:
Naivität und Ironie, müssen Haydn durchaus zugestanden werden.
Seine Werke sind eine ideale Sprache der Wahrheit,
in ihren Teilen notwendig zusammenhängend
und lebendig. Sie sind vielleicht zu überbieten,
aber nicht zu übertreffen. Sein letztes Werk,
die Jahreszeiten, ist immer noch nicht genug
anerkannt, aber es bleibt die Krone
der musikalischen Werke seiner Zeit.«

Johann Wolfgang von Goethe

Eine späte Trilogie hätte es werden können – wenn der plötzliche Tod des Textdichters und die versiegende Schaffenskraft des Komponisten den Plan nicht vereitelt hätten. Zustande kam die überzeugende Einheit zweier großer Werke für Soli, Chor und Orchester. Das Oratorium »Die Schöpfung« liest im »Buch der Bücher« und legt die biblische Schöpfungserzählung im Geist aufgeklärt-katholischer Frömmigkeit aus. Das zweite Oratorium hingegen schlägt im »Buch der Natur« das Kapitel der Jahreszeiten auf und spart nicht mit Querverweisen zu verwandten Themen wie den Tageszeiten oder den Lebensaltern. Auf dem Titelblatt der originalen Partitur, das mit einem Reigen der vier Jahreszeiten geschmückt ist, lesen wir: »Die Jahreszeiten nach Thomson, in Musik gesetzt von Joseph Haydn«. Von »Oratorium« ist nicht die Rede, weil dieser Begriff damals wohl den dezidiert geistlichen Werken vorbehalten war. Ungenannt bleibt auch der Name des Librettisten.

Der bald nach Haydns Rückkehr aus London in den Jahren 1796–1798 komponierten »Schöpfung« war ein beispielloser Erfolg beschieden, an den die »Jahreszeiten« moderat anknüpfen konnten. Und keine Geringere als Kaiserin Maria Theresia von Neapel-Sizilien (1772–1807) höchstselbst sang die Sopranpartie bei einer Aufführung am 24. Mai 1801. Ein geplantes drittes Oratorium, angeregt von Ihrer Majestät, hätte sich dem Thema des »Jüngsten Gerichts« widmen sollen, so dass auch noch das »Buch mit sieben Siegeln« mit ins Spiel gekommen wäre. Insgesamt wäre damit der traditionell-theologische Dreischritt Schöpfung-Erlösung-Vollendung in die religiös-aufgeklärte Trias Schöpfung-Erhaltung-Vollendung gleichsam transponiert worden.

Bei allen genannten Werken Haydns schuf ein adliger Politiker und Mäzen die Textvorlagen. Gottfried van Swieten (1733–1803) wirkte unter Kaiser Joseph II. in Wien als Diplomat und Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek. Seine Libretti sind jedoch keine »creatio ex nihilo«, sondern jeweils Bearbeitungen anderer Werke, was damals noch keine Plagiatsvorwürfe auf den Plan rief. Blicken wir kurz auf die biblischen Impulse mitsamt den literarischen Vorlagen: Die oartorische Fassung der »Sieben Worte unseres Erlösers am Kreuze« – auch dieses Werk aus dem Jahr 1796 ist im Blick auf die Zusammenarbeit Haydns mit Baron van Swieten zu nennen – geht auf die biblisch-neutestamentlichen Passionsberichte und eine anonyme Dichtung zurück. Die von den alttestamentlichen Schöpfungserzählungen und –psalmen ausgehende »Schöpfung« macht Anleihen bei John Miltons religiösem Epos »Paradise lost«.…


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