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Drama und Meditation

Frank Martins Passionsoratorium „Golgotha“


Am Anfang steht Bach. Denn eine Aufführung von dessen Matthäuspassion in der Genfer Kathedrale St. Pierre beeindruckt den etwa dreizehnjährigen Frank Martin (1890–1974) so stark, dass er sich „von Anfang bis Ende dieser Passionsmusik wie in den Himmel versetzt“ fühlt. Obwohl im calvinistischen Genfer Elternhaus Musik und Theater eine große Rolle spielen – der Vater ist Pfarrer, Frank das jüngste von zehn Kindern –, hat der spätere Komponist des Passionsoratoriums „Golgotha“ nie eine Musikhochschule besucht. Privater Unterricht bei dem Rheinberger-Schüler Joseph Lauber und eigenes Nachdenken weisen ihm den Weg, auf dem er vom zeitlebens unangepassten „Außenseiter der neuen Musik“ (Bernhard Billeter) zu einem Klassiker der Moderne wird. Dennoch entzieht er sich letztlich den üblichen Etikettierungen „neoklassizistisch“ oder an der Tradition orientiert.
Ähnlich wie der Schweizer Dirigent Ernest Ansermet, mit dem er befreundet war, lehnt auch Frank Martin die strenge Zwölftontechnik der Schönberg-Schule als umfassend gültige Theorie ab. Vielmehr versucht er, die herkömmliche Tonalität nicht völlig aufzugeben, sondern sie auf den Spuren von Ravel und Debussy zu erweitern. Archaische Klangwelten spielen hierbei eine ähnlich große Rolle wie die Suche nach musikalischen Farben. Der „Schweizer Weltbürger“ (Laurenz Lütteken) lebt unter anderem in seiner Heimatstadt Genf, in Zürich und Paris als wirtschaftlich weitgehend unabhängiger und international erfolgreicher freischaffender Komponist und Lehrer. Von 1950 bis 1957 wirkt er als Professor für Komposition an der Kölner Musikhochschule. Seine letzten Lebensjahre verbringt er im niederländischen Naarden. „Golgotha“ entstand in Genf und Amsterdam als Frucht eines dreijährigen Ringens mit der Gattung Passionsmusik. Zum einen verspürt Martin den geheimnisvollen Ruf, eine Passion zu schreiben. Zum anderen eine ebenso große Scheu: „Alles schien es mir zu verbieten; vor allem ein wahrer Kult, den ich von Kindheit an (und bis auf den heutigen Tag) der Matthäuspassion von J. S. Bach geweiht habe, aber vielleicht noch mehr die Tatsache, dass ich mich unwürdig fühlte, ganz und gar unwürdig, ein solches Thema zu behandeln.“ Das Ergebnis – „der Ruf war stärker als mein Widerstand und ich habe mich an die Arbeit gemacht” – erklingt heute. Es ist das Werk eines Komponisten, der sein Thema in Klänge fassen will, indem er zugleich geradezu ehrfürchtig bleibt: „Die einzig mögliche Haltung war tiefe Demut.“
Die Textgrundlage des am 29. April 1949 im Genfer Reformationssaal erstmals aufgeführten Werkes, das rasch überreginal bekannt wurde, hat der Komponist selbst zusammengestellt: aus biblischen Versen (Psalmen und neutestamentliche Passionsberichte), liturgischen Worten (das „Exultet“ als Lichtdanksagung in der Osternacht) und theologischen Reflexionen (echte und unechte Schriften des Kirchenvaters Augustinus). Insgesamt entsteht so ein Spannungsfeld von dramatischer Darstellung und meditativer Deutung, von Bibelwort und menschlichen Antwortversuchen, in dem die Hörerinnen und Hörer sich betrachtend einfinden können.
Die Besetzung ist sinfonisch, geradezu opulent: fünf Vokalsolisten (Sopran, Alt, Tenor, Bariton, Bass), gemischter Chor sowie großes Orchester mit Streichern, doppelt besetzten Holzbläsern (auch Pikkoloflöte, Oboe d’amore und Englischhorn), voller Blechbläsersatz, Schlagwerk, Klavier und Orgel. Das Vorbild Bach wird bei Martin immer wieder hörbar, zu Beginn gleich in den „Vater!“-Anrufungen, die an die „Herr!“-Akklamationen der Bach’schen Johannespassion erinnern, obwohl sie hier nicht Christus, sondern dem „Vater“ gelten. Neben Bach steht auch Rembrandt Pate bei diesem Oratorium. Im Frühjahr 1945, kurz vor der Erstaufführung seines Oratoriums „In terra pax“, kommt noch eine bildliche Inspiration mit ins Spiel. Martin sieht in einer Genfer Ausstellung Rembrandts Radierung „Die drei Kreuze“ mitsamt den Entwürfen hierzu. Was ihn fasziniert, ist der Gegensatz von Licht und Schatten, den er in Klänge „transponieren“ will. Letztlich soll das biblisch bezeugte und in gegenwärtiger Aneignung immer neu lebendige Ereignis der Leidensgeschichte Jesu seine musikalische Form – mit Hilfe des Komponisten und im Dialog mit der Gattung Passionsmusik – selbst finden! Dabei kommt ein weiterer Dialog mit ins Spiel, nämlich der mit den Hörerinnen und Hörern. Martin will keine dezidierten Antworten auf das Golgotha-Geschehen vorgegen, sondern die Passion in ihren einzelnen Stationen konzertant so darstellen, „dass es dem Hörer überlassen bleibt, die Lehre daraus zu ziehen“.
Entscheidend ist die von Rembrandt inspirierte Konzentration auf Christus: „Meinem ersten Gedanken treu, der mir durch den Anblick der Rembrandt-Kupferstiche eingegeben wurde, bemühte ich mich, das ganze Licht auf die Erscheinung Christi zu konzentrieren und jede andere Person im Dunkeln zu lassen.“ Das erklärt, dass es neben der Christuspartie nur noch zwei weitere solistisch profilierte „Rollen“ gibt,...


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