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Konzertante Andacht und musikalisches Drama

Beethovens Missa solemnis


„Mein größtes Werk ist eine große Messe, welche ich ohnlängst geschrieben habe.“ Das berichtet Beethoven am 6. Juli 1822 an seinen ehemaligen Schüler Ferdinand Ries. Ähnlich lautende Formulierungen finden sich in weiteren Briefen an Verleger oder Freunde. Und der Anspruch, den Beethoven bereits beim kleineren Schwesterwerk, der Messe C-Dur, erhoben hatte: dass er nämlich „den Text behandelt habe, wie er noch wenig behandelt worden“, dieser Anspruch gilt für sein religiöses Opus summum in D-Dur gewiss in gesteigertem Maße. Dabei war und ist der Wortlaut des Messordinariums der vielleicht am häufigsten vertonte geistliche Text. Kein Komponist kann sich außerhalb der Gattung stellen, auch Beethoven nicht. Entscheidend ist die Auseinandersetzung mit der Gattung im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, vokalen und instrumentalen Aspekten, liturgischer Funktion und konzertanter Ambition, kirchlichem Glauben und persönlicher Frömmigkeit, eingängiger Melodik und „schwieriger Entzifferbarkeit“ (Kurt von Fischer), monumentaler Klangwucht und andächtiger Stille. Wichtig und inspirierend wird zudem die Spannung zwischen den Aussagen des Glaubens sowie deren dramatisch-musikalischer Gestaltung, die sich durchaus als eine Art „geistlicher Inszenierung“ verstehen lässt.
Was wir hören, ist ein letztlich rätselhaftes Spätwerk, das sich nur ansatzweise und immer wieder neu erschließt. Am nächsten kommt dem Rätsel vielleicht ein Gemälde. Im Frühjahr 1820 gewährt Beethoven dem Maler Joseph Karl Stieler immerhin vier Sitzungen für ein Porträt: im Hintergrund eine Waldlandschaft als Sinnbild für die göttliche Schöpfung des „Deus artifex“. Beethovens Blick ist nach oben gerichtet, weil er als „Homo creator“ von dort die Inspiration zur künstlerischen Schöpfung empfangen will. In der einen Hand hält er die Noten und in der anderen den Schreibstift, um einen kompositorischen Einfall sogleich zu Papier bringen zu können.
Nur auf diesem Bild begegnet der Titel „Missa solemnis ex D“. Die Frage des Malers danach ist in einem Konversationsheft Beethovens ebenso dokumentiert wie die Antwort des Komponisten, der sich in jener Zeit aufgrund seiner Schwerhörigkeit anders nicht mehr verständigen konnte. Im Zusammenhang erster (Teil-)Aufführungen der Messe kommen weitere „Überschriften“ hinzu, die wiederum Rätsel aufgeben: Einzelne Sätze werden „Hymnen“ genannt, wohl um nicht die Zensur auf den Plan zu rufen, die an der konzertanten Aufführung kirchlich-liturgischer Texte damals noch hätte Anstoß nehmen können.
Bei der ersten Gesamtaufführung im alten Philharmonischen Saal von St. Petersburg am 7. April 1824 heißt das Werk mit Beethovens Billigung „Oratorium“. Das könnte zum einen auf die typisch oratorische Besetzung verweisen. Keineswegs ausgeschlossen ist aber eine weiterführende Deutung: Beethoven wählt die liturgische Gattung der Messe, um mit ihrer Hilfe das Drama des Glaubens musikalisch darzustellen, wie er es – im Ringen mit sich selbst, mit Gott und mit der Musik – erlebt. Für ein Oratorium wäre eine Handlung vonnöten, die es im Wortlaut des Messordinariums so nicht gibt. Für Beethoven scheint es sie aber doch zu geben, weil er in seinem Komponieren zahlreiche dramatische Aspekte freilegt und weil er den Akt des Schaffen ebenso wie den des Aufführens und des Hörens letztlich als einen religiös-dramatischen Prozess versteht: „Höheres gibt es nicht, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern und von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht verbreiten.“
Selbst im Blick auf Liturgie der Messe mag ein solches „Sich-Nähern-der-Gottheit“ als durchaus stimmige Kurzformel gelten. Zunächst nähert sich Gott den Menschen. Das hätte auch Beethoven nicht bestritten, zumal er das „Heilig, heilig“ in der herrlichen Natur zu vernehmen glaubt. Die menschliche Reaktion auf die Offenbarungen Gottes ist wiederum spannungsvoll, was in Beethovens Musik deutlich zu spüren ist: zwischen anziehender Faszination etwa vor der erhabenen Majestät des Kyrios („Kyrie …“) und zurückweichender Ehrfurcht in der demütigen Bitte um Erbarmen („… eleison“, sowie später „miserere“ und intensiviertes „o miserere“).
Hermannn Kretschmar kommentiert den Kyrie-Beginn mit den Worten: „Nachdem das Orchester den Grundton für die Stimmung des ‚Kyrie‘ gegeben hat, naht sich die Sängerschar, Chor und Soli, in ehrfuchtsvollem Schritt. ...


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